Meine Oma in der Pandemie
Es sei denn meine Oma kam zu Besuch. Die genehmigte sich gerne einen “Friesengeist”.
Als Achtjähriger hielt ich das für ein gefährliches Verhalten und wollte meine Großmutter warnen. “Oma-Rutchen” antwortete mir aber heiter, sie habe ihr Leben gelebt, wir werden alle sterben, und bis es bei ihr so weit sei, wolle sie das Leben genießen. Die Antwort hat mich so überzeugt, dass ich mich fortan freute, wenn die angestaubte Flasche wenigstens durch sie ab und an gewürdigt wurde.
Meine Oma ist lange tot. Sie verstarb trotz Friesengeist mit 89 Jahren, verbrachte ihre letzten Jahre im Pflegeheim, wo sie entgegen ihres erklärten Willens noch einmal zurück “ins Leben” geholt wurde.
Seit das neue Virus in den Medien laut und in den Pflegeheimen abgeschottet um sich greift, denke ich oft und gerne an meine Oma. Vielleicht hätte sich die umtriebige kleine Frau das Virus eingefangen. Vielleicht wäre sie daran gestorben. Wäre das unbedingt schlimm gewesen?
Meine Oma wollte nicht so alt wie möglich werden, aber sie wollte ihr Leben genießen und würdig sterben.
Als Student habe ich mir einmal ein Wochenende genommen und mir ohne Intervention der Familie ihre Geschichte erzählen lassen. Auf dem Weg zum Luftschutzbunker, beim Hamstern und Warentausch in der Nachkriegszeit, aber auch bei Heimfahrten mit Friesengeist oder dem Bau ihres Hauses ohne Helm und Sicherheitsnormen war sie oft erheblichen Gefahren ausgesetzt und setzte sich manchen aus.
Nach ihrem Tod fand ich zwischen zerlesenen Briefen eine Verfügung, die sie in den Kiegs- und Fluchtjahren immer bei sich getragen hatte: Sie sei katholischen Glaubens und im Falle des Sterbens oder einer tödlichen Krankheit verlange sie einen priesterlichen Beistand.
Ich bin nicht katholisch und wenige Menschen werden noch so katholisch sein, wie meine Oma 1944. Eines aber scheint mir immer noch zu gelten: Wir sollen den Tod nicht fürchten und niemand soll alleine sterben.
Das Virus hat diese schlichte Lebensweisheit ins Gegenteil verkehrt. Seit März werden wir von der Angst regiert. Selbst die Kirchen, die früher “fürchte Euch nicht!” predigten, appelieren dafür alleine zu bleiben und so sie Träger von Pflegeeinrichtungen sind: alleine zu sterben.
Fast alle Menschen, die ich kenne, haben ihr soziales Leben radikal eingeschränkt. Trotzdem werden Politik und politisierte Virologen nicht müde, immer noch mehr Kontaktvermeidung, Apartheit, Vereinsamung, Stubenhockerrei und Lebensimulation vor dem Bildschirm zu fordern.
Spielen, Tanzen, Feier, Musizieren, Plaudern, Lachen, Begegnen, Streiten und Vertragen galt einmal als Selbstverständlichkeit jeder nur freieren Gesellschaft. Heute sind fast alle Freuden unter Menschen mindestens bußgeldbewährt und sozial geächtet.
Aber dieses Virus ist nicht die Pest. Bis zum Weihnachtsfest sind im Jahr 2020 etwa 30.000 Menschen an oder mit Sars-CoV 2 gestorben.
Ohne Maßnahmen wäre es sicher mehr gewesen. Aber wäre das schlimm? Es sterben in Deutschland jährlich etwa 900.000 Menschen. Darunter sind zehntausende “vermeidbare Todesfälle”. Verbieten wir Friesengeist, Motorradfahren, schwermütige Literatur, Rauchen und Kuchen ab einem BMI von 20? Zum Glück nicht.
Ja, es gibt Menschen, die mit 30 Jahren ein Herzinfrakt erteilt und es gibt junge Menschen, die an Corona versterben. Bis zum 15. Dezember waren das in der Altersgruppe der 30 bis 39 Jährigen 50 Menschen.
Anders als die Pest ist Sars-CoV 2 auch in der älteren Bevölkerung eher selten tödlich. Aber wer sein 70tes Lebensjahr erreicht hat, stirbt häufiger: An Krebs, Herzinfarkten, Sepsis oder eben an Corona. Die Coronatoten über 70 Jahre machen 87 Prozent aller Corona-Fälle aus. Bei Herzinfakttoden sind 91 % 70 Jahre oder Älter.
In aller Regel trifft es die, die ein Alter erreicht haben, das früher “gesegnet” genannt wurde. Etwa die Häfte stammt aus Alten- und Pflegeheimen. Viele Gläubige von ihnen werden durch den Tod von letzten Leiden erlöst.
Gesunde Menschen vor der Rente trifft es in aller Regel nicht schwer, und weniger als 10 Kinder im Grundschulalter wurden durch oder mit Corona aus dem Leben gerissen.
Als ich ein Kind war, gab es noch das Wort Altersschwäche. Meine Tante Leonore starb daran und das Wort hatte etwas tröstliches, nahm es die Furcht vor dem Tod und ordnete das Sterben dem Lauf des Lebens zu. Heute stirbt niemand mehr an Altersschwäche. Wir fremdeln zunehmend mit dem Tod und statt ihn an das Ende eines – so Gott will – erfüllten Lebens zu stellen, suchen wir Schuldige und hardern mit ihm.
Mit 75 Jahren wurde meine Oma etwas einsam und war vielleicht auch daher voll Lebensdrang. Sie ging erstmals auf lange Reisen, war viel unterwegs, lud ein, besuchte alle Welt und führte zwischenzeitlich zwei Haushalte.
Wäre unser agiles Rutchen mit 81 in die Isolation gezwungen worden, sie wäre daran zerbrochen. Meine Oma war in ihrem Leben ganz anderen Gefahren ausgesetzt. Ich glaube vor einer Virus-Erkrankung hätte sie keine Furcht gehabt und ich bin froh, dass sie die Corona-Isolation nicht mehr erleben musste.